Meine Arbeit als Coach bezieht zuweilen auch die private Situation von Klienten ein. Dies geschieht natürlich immer nur auf Wunsch des Klienten.
Bei einem Treffen berichtete mir kürzlich eine Klientin von einem Gespräch mit ihrem Partner, von dem sie sich gerade getrennt hatte. Sie schrieb ihm nach dem Treffen eine SMS: „Was ist Realität?
Was bleibt als erlebte Wirklichkeit im Kopf? Ich fand das heute schon verstörend, wie unterschiedlich die Fußabdrücke der Ereignisse in uns sind.“
Dies ist mit Sicherheit eine Schlüsselfrage für jede Art von Erinnerung, auf die man als Mensch meint gesichert zugreifen zu können.
Der Bielefelder Gedächtnisforscher Hans Markowitsch stellt fest, dass wir unsere Erinnerungen selbst schaffen. Erinnerungen sind dynamische Rekonstruktionen selektiv wahrgenommener Informationen,
emotional gefärbt und manipulierbar.
Woran wir uns erinnern, hängt zunächst einmal von der eigenen Verfassung im Moment des Erinnerns ab. Ein depressiver Mensch wird eher an trostlose Erlebnisse denken, ein glücklicher an die guten.
Je stärker sich die ursprüngliche Situation und der Moment des Abrufs ähneln, desto leichter ist die Erinnerung zugänglich.
An welche Details wir künftig denken werden ist unmöglich zu prophezeien. Denn jedes Mal wenn eine Erinnerung aus dem Gedächtnis abgerufen wird, verändert sie sich. Die aktuelle Stimmung drückt
ihr einen Stempel auf, stärkt oder schwächt Empfindungen, rückt Details in den Vordergrund und lässt andere verblassen. Dazu trägt nach Ansicht des Sozialpsychologen Gerald Echterhoff auch bei,
mit wem wir über vergangene Ereignisse sprechen, wie wir selbst beim Erzählen gewichten und welche Sicht ein anderer beiträgt. Die Erinnerung die danach wieder im Gedächtnis gespeichert wird, ist
eine leicht veränderte. Im Extremfall entstehen völlig falsche Erinnerungen. Wir meinen, Dinge getan oder erlebt zu haben, die nie passiert sind.
Über dieses Phänomen und neue Ergebnisse empirischer Forschung hat der Spiegel im erste Jahresheft 2016 unter dem Titel „Das trügerische Gedächtnis. Psychologie: Warum unser Gehirn Erinnerungen
fälscht“ berichtet.
Schon der renommierte französische Philosoph Henri Bergson hat schon vor fast hundert Jahren von der Erinnerung als einem „unaufhörlichen Akt der Interpretation“ gesprochen. „Indem wir uns der
Vergangenheit erinnern, interpretieren wir sie schon, und zwar in Übereinstimmung mit unserer jeweils aktuellen Auffassung von dem, was wir für wichtig halten oder nicht“.
Ratsam ist – und dies ist eine wesentliche Erkenntnis aus dem oben dargestellten – als sicher gespeicherte Erinnerungen immer wieder mal kritisch zu hinterfragen. Am Besten im Dialog mit
Menschen, die jeweils beteiligt waren. Dies umso mehr, wenn man Entscheidungen treffen will, die wichtig sind.
Ob meine Klientin dies nach ihrer SMS getan hat weiß ich nicht. Unser Coaching Prozess ist mittlerweile beendet.